Sonntag, 5. Juni 2022

Zu Hause bleiben möchte niemand

Alternativtext: Auf dem Foto ist der Reisebus der Reiseagentur Carsten Müller mit ausgefahrenem Hebe-Lift zu sehen.
Copyright: Carsten Müller


Verreisen Menschen mit Behinderungen in Zeiten der Corona-Pandemie überhaupt noch? In einer Umfrage der Statista GmbH zum Einfluss der Pandemie auf das Reiseverhalten der Menschen insgesamt aus Deutschland – also unabhängig von einer Behinderung - gaben im Jahr 2021 rund 45 Prozent der Befragten an, dass sie die Risiken der Pandemie zum Anlass nehmen, lieber zu Hause zu bleiben. Einer Hochrechnung dieses führenden Anbieters für Markt- und Konsumentendaten zufolge verzeichnete die Tourismusbranche allein zwischen den Monaten März bis Dezember 2020 Umsatzeinbußen in Höhe von insgesamt rund 69 Milliarden Euro in Deutschland. Ob dabei Menschen mit Behinderungen noch stärker auf das Reisen verzichtet haben, kann man zwar vermuten, verlässliche Zahlen gibt es aber nicht. Es ist aber wohl davon auszugehen, dass diese Personengruppe besonders vorsichtig mit Entscheidungen bezüglich Reisen umgeht und ihren Urlaub eher im heimischen Umfeld verbringt. Gibt es dennoch Hoffnung?

 

Für uns alle verständliche Kontaktsperren und allgemeine Ausgangsbeschränkungen, weltweite Reisewarnungen und ein Abraten von nicht-notwendigen Reisen im In- und Ausland führten innerhalb der letzten zwei Jahre dazu, dass zahlreiche Einrichtungen aus dem gastronomischen und Touristischen Bereich vorübergehend schließen oder den Regelbetrieb stark einschränken mussten. Das Hotel- und Gastgewerbe entwickelte sich dadurch zu einer von der Corona-Krise am stärksten betroffenen Branchen insgesamt. Da steht die Frage im Raum, ob wir im Sommer dieses Jahres wieder - ganz normal - durch die Welt düsen und uns wiedersehen können. Oder müssen wir weiterhin mit Einschränkungen rechnen? Und was bedeutet das konkret für Menschen mit Behinderungen? Wie sind die Unternehmen der Reisewirtschaft, die speziell auf barrierefreien Tourismus setzen, durch die Krise gekommen?

 

Seehotel Rheinsberg setzt auf kurzfristige Buchungen

„Im Moment haben wir unser Hotel freiwillig geschlossen,“ erklärt mir Peter Vogt. Als Direktor des Seehotels Rheinsberg, das am Grienericksee im Naturpark Stechlin-Ruppiner Land im Norden Brandenburgs liegt, ist er jemand, der tagein, tagaus mit den Reisebedürfnissen von Menschen mit Behinderungen konfrontiert ist. Denn das Hotel ist vielen Reisenden mit Einschränkungen bekannt als DAS Urlaubsdomizil mit seinen umfassenden barrierefreien Vorkehrungen. „Die Vorsicht und Ungewissheit sind zu groß,“ fügt er hinzu. Über Weihnachten und Sylvester allerdings wäre das Hotel geöffnet gewesen. Viele der Stammkunden seien froh gewesen, überhaupt irgendwo hinfahren zu können. Margot Pietsch ist eine von ihnen. Die Brandenburgerin, die aufgrund einer Poliomyelitis gehbehindert ist, war mit ihrem Aufenthalt sehr zufrieden. Die Urlaubstage, die sie hier mit einem Freund verbrachte, der im Rollstuhl sitzt, wären aufgrund des Hygienekonzeptes problemlos verlaufen. So hätten die Gäste während des Abendessens, das wegen der Abstandsregeln in zwei Durchgängen stattfand, an fest zugewiesenen Tischen gesessen, wodurch die gesamte Atmosphäre sehr entspannt war. Auch bei der Silvesterfeier sei alles wunderbar geregelt gewesen. Und am Neujahrstag hätten sie sogar eine Dampferfahrt mit der Reederei Halbeck unternommen. Auf der seit einiger Zeit barrierefrei umgebauten MS Remus können sogar 15 Rollstuhlfahrer das Sonnendeck nutzen. Dafür war es zu dieser Jahreszeit aber wohl etwas frisch.

„Brandenburg ist in dieser Hinsicht gnädig gewesen. Zumal die Gruppe von Reisenden mit Behinderungen hinsichtlich ihres Impfstatus´ ganz weit vorn ist“, erklärt Vogt. Jetzt allerdings, Anfang des neuen Jahres, sei alles sehr zögerlich. Die Leute würden abwarten, wie sich die Regeln entwickelten. Hinzu käme die Frage, was am Urlaubsort überhaupt noch möglich sei. In Rheinsberg sei es zumindest jetzt im Winter erschreckend ruhig. Die Gastro zum Beispiel hätte es im Moment sehr schwer.

Aber so hart die Reisebranche auch von der Pandemie betroffen sei: „Der Sommer letzten Jahres war für uns überdurchschnittlich gut, die Menschen haben alles nachgeholt. Viele entschieden sich bewusst, ihren Urlaub im Inland zu verbringen“, schätzt Vogt ein. Das hätte über viele Einbußen hinweggeholfen. Gleichsam spricht er die Hoffnung aus, dass das auch in diesem Sommer so sein möge. „Die Buchungen waren so gut wie noch nie und nun hoffen wir, dass der Trend sich in diesem Jahr wiederholt.“ Natürlich könne man das nicht genau voraussagen, aber Vogt sei hoffnungsvoll, dass viele Urlauber kurzfristig buchen würden.

Die selbst gewählte Schließzeit nutzt das Hotel unterdessen für Sanierungs- und Baumaßnahmen, zum Beispiel im Schwimmbad. Durch Kurzarbeit und Überbrückungsgelder und den Umstand, dass es mit der Donnersmarck-Stiftung einen starken Eigentümer gäbe, hätte es das Hotel nicht so hart getroffen wie vielleicht andere Unternehmen. Insofern gibt es – zumindest in diesem Fall – Grund zum Optimismus. Außerdem, so Vogt, könnten sich die zukünftigen Gäste auf das sanierte Schwimmbad, auf neue Möbel und größere Fernseher in den ohnehin gemütlichen Zimmern freuen. 

 

Urlaubstrend Inlandreisen

Es sieht so aus, als würde der Trend ohnehin in Richtung Inlandreisen gehen, was sicherlich auch der Umwelt zugutekäme. Über die Hälfte aller Urlaubsreisen fand 2020 in Deutschland statt – so viele wie zuletzt in den 1970er Jahren. Allerdings war die Anzahl der Reisenden insgesamt geringer. Betrachtet man allein die Marktanteile, so wuchs der Anteil an Inlandsreisenden – im Vergleich zum Vorjahr – um über 20 Prozentpunkte auf 56 Prozent. Bayern, Niedersachen und Baden-Württemberg konnten ihre Marktanteile dabei jeweils in etwa verdoppeln. Neben den traditionellen Ferien-Bundesländern im Norden und Süden des Landes wurden 2020 auch andere Feriengebiete massenhaft besucht. So verbrachten beispielsweise doppelt so viele Bundesbürger ihren Haupturlaub in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen oder Sachsen wie in der Türkei. In Brandenburg waren mehr Urlauber als in Kroatien und nach Hamburg zog es genauso viele Touristen wie nach Frankreich.

 

Die Kunden warten auf uns

Carsten Müller, Chef der gleichnamigen Berliner Reiseagentur, ist Spezialist für barrierefreie Busreisen. Er bietet sowohl Inlands- als auch Auslandsreisen an, die er zusammen mit seiner Ehefrau im rollstuhlgerechten Reisebus, ausgestattet mit Hebe-Lift, bequemen Sitzen, Sicherheitsgurten und Bodenverankerungen für die Personen, die im Rollstuhl sitzend reisen, unternimmt. Sein Schwerpunkt liegt dabei eigentlich auf Auslandsreisen. Denn viele seiner Kunden reisen zwar selbständig durch Deutschland, vertrauen aber auf seine Kompetenz im Ausland, um die Reiseziele zu besuchen, die sie sich allein nicht zutrauen. Für Müller waren die letzten Monate eine sehr schwere Zeit, denn während der Pandemie waren touristische Busreisen über Monate hinweg gar nicht möglich. Dank der Wirtschaftshilfen ist es ihm aber gelungen, durch die Krise zu kommen, wie er versichert. Und unter Einhaltung der Hygieneregeln sei auch vieles wieder möglich. Sein neuer klimafreundlicher Reisebus, den er sich erst 2019 angeschafft hat, verfüge zudem über ein patentiertes Luftreinigungssystem, das für nahezu bakterien- und virenfreie Luft sorge.

Jetzt ist er gerade dabei, den Katalog für 2022 fertigzustellen. „Dieses Mal sind wir damit sehr spät dran, aber die Situation ist einfach nicht vorhersehbar. So schreiben wir unser Programm immer wieder neu und passen es den aktuellen Bedingungen an.“ Momentan geht Müller davon aus, die Reisen auch durchführen zu können. „Ob wir eine Reise letztendlich absagen müssen, wissen wir natürlich nicht. Das hängt von der Entwicklung der Pandemie ab.“ Die Kunden seien ihm und seiner Frau aber sehr treu geblieben. Immer wieder riefen sie an und versicherten, dass sie auf die Angebote warten würden. Denn zu Hause bleiben wolle niemand.

Allerdings hat Müller im Moment den Schwerpunkt auf Inlandreisen verlagert. Die Gefahr, im Ausland zu erkranken, sei für viele zu groß. Es mache auch keinen Sinn, Auslandsreisen zu planen, die dann möglicherweise doch abgesagt werden müssen. Städtereisen wie die nach Paris und London habe er vorerst völlig aus dem Programm genommen. „Wir wissen nicht, was nächste Woche ist. Besonders Städtereisen sind da noch mal komplizierter hinsichtlich der Vorbereitung“, fügt er hinzu, da wolle er kein Risiko eingehen. „Wir müssen unsere Reisen ohnehin immer etwa ein dreiviertel Jahr im Voraus planen, weil wir uns alles selbst vor Ort ansehen, ob die Gegebenheiten auch tatsächlich barrierefrei sind. Da überlassen wir nichts dem Zufall.“ Dennoch: Zur Freude seiner Kunden gibt es eine ganze Reihe von Reiseangeboten jenseits der deutschen Grenze. Die geplante Reise in die Schweiz im Sommer dieses Jahres zum Beispiel war innerhalb eines Monats ausgebucht.

„Die Kunden warten auf uns, das ist uns Ansporn“, ist sich Müller sicher. Dass die Menschen – egal ob mit oder ohne Behinderungen – auch in Zukunft ihrer Reiselust frönen werden, mit dieser Überzeugung steht er nicht allein. Mit Rückblick auf das vergangene Jahr gehen Touristiker allgemein davon aus, dass sich im kommenden Frühjahr und Sommer die Lage entspannen und Reisen mit weniger Einschränkungen für alle Gäste wieder möglich sein werden.

 

Weitere Informationen:

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